Tschernobyl: Broken Dreams

Chernobyl: Broken Dreams

Im Mai und Oktober 2011 entstand aus mehr als 9.000 Fotos und über 30 Stunden Interviews mit ehemaligen Ingenieuren, Direktoren und Liquidatoren des Kernkraftwerks diese aktuelle Dokumentation über Tschernobyl, wie es heute ist - ein Vierteljahrhundert nach dem größten Atomunfall der Geschichte.

„Es war und ist üblich, die Zustimmung der lokalen Entscheider
mit bis zu 3%
des Vertragsvolumens zu erkaufen.“

 

„Niemand hat hier ein ernsthaftes Interesse daran, dass der neue Safety Shelter schnell gebaut wird: 
Je länger sie daran arbeiten, desto länger zahlen die westlichen Konzerne dafür."

 

„Wir haben hier in der Ukraine ein altes Sprichwort:
Wenn du Speck schneidest, bleibt etwas davon an deinen eigenen Händen kleben.“

 

Valentin Kupny,

von 1995 bis 2002 Direktor der Abteilung "Object Shelter"

An einem sonnigen Morgen im Mai 2011 kehre ich der Stadt der vielen goldenen Kuppeln den Rücken. Das alte Herz der ukrainischen Metropole Kiew erinnert mich mit seinem liebenswerten Laissez-faire, den prachtvollen Kirchen und Klöstern, den pompösen Boulevards und den vielen wundervollen Straßen-Cafés so sehr an Paris.

Doch mein Ziel liegt gut 100 Kilometer den Dnjepr flussaufwärts und ist eine andere strahlende Kuppel: die Atomruine von Tschernobyl. 

In der äußeren Sperrzone

Meine Reise führt mich durch die evakuierte Sperrzone I mit einem Radius von 30 Kilometern, aus der alle 130.000 Einwohner umgesiedelt werden mussten, in die fast menschenleere Stadt von Tschernobyl, wo ich nur 12 Kilometer vom Katastrophenmeiler entfernt für mehrere Tage mein Lager aufschlage. 

 

Ein wahrhaft stiller Ort, den die Natur langsam und schleichend zurückerobert: Schon durchbrechen freche Birken den Asphalt der autofreien Straßen und streifen neugierige Wölfe und unerschrockene Wildschweine in der Nachbarschaft herum. Nach 20 Uhr herrscht Sperrstunde in der Stadt und die Sonderpolizei lässt nicht mit sich verhandeln.  

 

In der Nacht herrscht eine so vollkommene, allumfassende Stille, dass vor lauter akustischem Vakuum die an den Weltenlärm gewöhnten Ohren zu schmerzen drohen: So muss sich totale Taubheit anfühlen! Zum Glück versichert mir der zaghafte Gesang einer einzelnen Nachtigall, dass ich noch im Hier und Jetzt bin. 

 

Nur etwa 400 Kerntechniker und Bauarbeiter, die sich um die Nachbetriebsphase der Kernreaktoren kümmern und die Errichtung des zweiten Sarkophags (NSC, New Safety Confinement) vorbereiten, schlafen hier während ihres Aufenthalts (zwei Wochen Arbeit, zwei Wochen Urlaub zu Hause).

 

Weitere 16.000 Arbeiter und Ingenieure leben am nordöstlichen Rand der 30-Kilometer-Sperrzone in der Stadt Slawutytsch, die dort im Herbst 1986 als Ersatz für die verstrahlte Stadt Pripyat gebaut wurde. In luftdichten Spezialzügen pendeln diese Angestellten morgens und abends zwischen Slawutytsch und dem Kernkraftwerk durch die radioaktiv verseuchte Sperrzone hin und her. 

 

Wie an jedem Abend in Tschernobyl werden in geselliger Runde die Erlebnisse des Tages ausgetauscht, die ungestillten Sehnsüchte von der fernen Heimat geteilt und irgendeine russische Seele stimmt schließlich eine der anrührend melancholischen Melodien von Mütterchen Russland an. Als allgegenwärtiger Begleiter kreist die Literflasche vom billigen aber guten Nemiroff-Wodka (ab 1,35 Euro pro Liter). Was für den flüchtigen Beobachter vielleicht wie ein gelebtes Klischee wirkt, ist für diese Männer der überlebenswichtige Versuch, in einer menschenleeren, verstrahlten Umgebung wenigstens vor dem Schlafengehen noch ein paar Stunden voller Gemeinsamkeit, Herzlichkeit und Zerstreuung zu erleben. 

 

Mein modernes Strahlenmessgerät erntet die Anerkennung der Atomwerker und bleibt bisher stumm: Die Strahlenwerte in der Stadt Tschernobyl sind zwischen ein- und zweimal so hoch wie im Wendland. Jene natürliche Hintergrundstrahlung in Lüchow-Dannenberg von 0,12 Mikrosievert pro Stunde werde ich der Einfachheit halber im weiteren Verlauf als Vergleichsmaßstab nutzen. 

In der inneren Sperrzone

Sie hatten voller Ehrgeiz den größten Kraftwerkskomplex der Welt geplant: zwölf kraftstrotzende Kernreaktoren. Vier Kraftwerke waren schon in Betrieb, davon der vierte Block und zugleich das Vorzeigeprojekt erst seit 1983 am Netz. Im Jahr 1981 begannen die Bauarbeiten für die Blöcke 5 und 6, deren Inbetriebnahme für Herbst 1986 geplant war. Doch nach der Havarie vom 26. April 1986 wurden die Montagearbeiten gestoppt und die Großbaustelle für "bessere Zeiten konserviert".

 

Das trügerisch saftige Grün der jungen Laubbäume lässt beinahe vergessen, dass hier überall der unsichtbare Feind namens Radioaktivität lauert. Ab und zu fallen in der scheinbar intakten Natur mit Gras bewachsene Hügel auf, die mit gelbroten Strahlenwarnzeichen gespickt sind - die „Mogilniks“ (Müllgruben).


Jeder dieser etwa 800 Erdhaufen verbirgt verstrahlte Fahrzeuge oder eines der hochgradig kontaminierten Bauerndörfer, die in größter Eile mit Bulldozern zusammengeschoben und hastig mit Erde bedeckt wurden. 

 

Auch wenn heute im wahrsten Sinne des Wortes Gras darüber gewachsen ist, lauert darunter für Tausende von Jahren weiterhin der gefürchtete Cocktail aus Uran und Plutonium, der langsam und unaufhaltsam in das Grundwasser sickert. 


Denn in aller Hektik wurden die Mogilniks weder mit Folien noch mit Beton abgedichtet. Jedes Jahr gelangen die äußerst langlebigen Radionuklide etwa fünf 
Zentimeter tiefer in den Boden und haben inzwischen bereits die Grundwasser führenden Schichten dieses sumpfigen Gebietes erreicht.

 

Hier meldet sich zum ersten Mal mein Dosisleistungsmessgerät und zeigt die 560-fache Strahlung - verglichen mit dem Wendland - an. 

Reaktor Nr. 4

Vorbei an einem Trockenzwischenlager (erbaut von der französischen AREVA) und an einer Konditionierungsanlage (errichtet und betrieben von der deutschen NUKEM) kommt langsam der Reaktor 4 mit seinem markanten Schornstein näher. 

 

Das Äußere des Sarkophags sieht immer noch hastig zusammengeschustert aus und reflektiert die Eile und das todbringende Strahlungsniveau, unter denen dieses über 50 Meter hohe Bauwerk zwischen Juni und Dezember 1986 errichtet wurde. Noch immer gibt es Löcher, durch die Regenwasser in das Innere gelangt und radioaktive Substanzen  mobilisiert und auswäscht und strahlenkontaminierter Staub austreten kann. Doch inzwischen ist das Bauwerk gegen den drohenden Einsturz stabilisiert und soll garantiert für noch mindestens 15 weitere Jahre halten.

 

In den nächsten Jahren soll neben der Reaktorruine für 1,6 Milliarden Euro der bogen-förmige zweite Sarkophag vom NOVARKA-Konsortium komplett montiert werden (110 Meter Höhe, 164 Meter Breite und 257 Meter Länge) und zum Schluss in einem Stück mit einem Gewicht von 29.000 Tonnen auf speziell verlegten Eisenbahnschienen über den heutigen Sarkophag geschoben werden. 

 

Ukrainische Fachleute lehnen seit Jahren diese von westlichen Unternehmen geplante Stahlgerüstkonstruktion vehement ab und favorisieren eine einfachere und kostengünstigere Betonkonstruktion aus einheimischer Planung. Besonders die nicht nachgewiesene Feuerfestigkeit der westlichen Stahlkonstruktion und auch die zweifelhafte Funktionalität bei der geplanten Bergung und Sicherung des radioaktiven Inventars aus der Reaktorruine (insbesondere die Aufhängung der schweren Lastkräne) sorgen bei den lokalen Experten immer noch für große Bedenken. Außerdem konnte NOVARKA keine Garantie geben, dass die Stahlkonstruktion mindestens 100 Jahre lang den widrigen Bedingungen standhalten wird.

 

Aber letztendlich wurde über die fachlichen Bedenken hinweg der Auftrag für den Bau der Stahlgerüstkontruktion erteilt. Überwiegend westliche Konzerne werden daran verdienen. Valentin Kupny, von 1995 bis 2002 Direktor der Abteilung "Object Shelter", erzählt im Gespräch freimütig, dass es üblich war und ist, die Zustimmung für anstehende Tschernobyl-Großaufträge mit bis zu drei Prozent des Vertragsvolumens von den lokalen Entscheidern zu erkaufen. „Wess' Brot ich ess, dess' Lied ich sing“, heißt es doch.

 

Und auch mein Dosisleistungsmessgerät fängt zu singen an: Trotz der etwa 100 Meter Entfernung zum Sarkophag klettern die gemessenen Strahlungswerte auf das 130-fache des Normalwertes im Wendland. Die von Greenpeace nachgewiesene Neutronenstrahlung aus dem Sarkophag ist dabei nicht einmal berücksichtigt ...

Die Stadt Pripyat

48.000 Menschen, fast alle Mitarbeiter des Kraftwerks mit ihren Familien, wohnten in der sowjetischen Vorzeigestadt Pripyat, die in den 70er Jahren knapp fünf Kilometer vom Reaktor entfernt aus dem Boden gestampft wurde. Viele Einwohner verfolgten am 26. und 27. April 1986 den angeblich harmlosen Brand im Reaktor Nr. 4 beim Feierabendbier von ihrem Balkon aus.

 

36 Stunden nach der Havarie wurden in nur zwei Stunden alle Einwohner der Stadt mit 1.200 Bussen und zwei Zügen evakuiert. "Für einige Tage" hieß es, doch an eine Rückkehr ist trotz aller Dekontaminationsbemühungen nicht zu denken. Auch wenn Nuklide wie Cäsium-137 und Strontium-90 mittlerweile zur Hälfte zerfallen sind, werden Uran-238 und Plutonium-239 für zigtausende von Jahren weiter strahlen. 

 

Pripyat war in jeder Hinsicht eine junge und wachsende Stadt mit vielen Kindern: Das Durchschnittsalter aller Bewohner lag bei nur 26 Jahren. 

 

Der leichtsinnige Enthusiasmus für die scheinbar gezähmte Urgewalt des gespaltenen Atoms spiegelt sich auch heute noch überall in der Geisterstadt wieder: Der riesige Kulturpalast heißt „Energetik“, die ehemalige Diskothek "Edison-2" und das menschenleere Kino trägt den Namen „Prometheus“ ...

Das Hotel "Polissiya"

In diesem eleganten Hotel, direkt am zentralen Lenin-Platz und neben dem Kulturhaus „Energetik“ gelegen, stiegen die in- und ausländischen Delegationen ab, die sich Tschernobyl als Musterstadt der Sowjetunion der Zukunft vorführen lassen wollten. 


Heute wuchern die ersten Birken in den verwaisten Hotelzimmern, doch von der großzügigen Suite in der sechsten Etage bietet sich immer noch das bekannte Panorama von Pripyat mit dem zum Greifen nahen, ausgebrannten Kraftwerk.  

 

Von dieser Hotelsuite aus wurden auch die Löschflüge der Hubschrauber über dem brennenden Reaktor koordiniert.  

Der Kulturpalast "Energetik"

Bunt und vielfältig war die Unterhaltung im Kulturpalast: Lesungen, Theater und Konzerte auf der Bühne, sportliche Höhepunkte in der Sporthalle, eine gut ausgestattete Bücherei mit sowjetischen Klassikern und moderner Propaganda-Literatur und dazu ein ausgezeichnetes Restaurant. 

 

Heute verschimmeln die verblichenen Bilder der Sowjetführer von gestern als ehemals unerlässliche Requisiten für den geplanten Maifeiertag 1986 hinter der Bühne und der verrottende Holzfußboden in der Sporthalle ächzt immer mehr unter dem Gewicht der auf ihm lastenden Handballtore. 

Das Krankenhaus Nr. 126

Über dem ehemals erstklassig ausgestatteten Krankenhaus Nr. 126 in der Straße der Völkerfreundschaft steht immer noch in großen Lettern "Gesundheit des Volkes - Reichtum des Landes". 

 

Hierhin wurden am frühen Morgen des 26. April 1986 die ersten tödlich verstrahlten Feuerwehrmänner und Mitarbeiter des Kernkraftwerks gebracht, die alle äußerliche Verbrennungen durch Beta-Strahlung aufwiesen und in wenigen Tagen an der erlittenen tödlichen Strahlendosis von mehreren Sievert pro Stunde starben. 

 

In den verlassenen OP-Sälen der gynäkologischen Station errichteten Ende April 1986 die Wissenschaftler des hochangesehenen Kurtschatov-Strahleninstituts aus Moskau ihre provisorischen Analyselabors, denn hier gab es in großem Umfang gekachelte Räume und stählerne OP-Tische, die nach den gefährlichen Untersuchungen jeden Abend relativ gut dekontaminiert werden konnten.

 

Wenige Tage nach der Havarie wurden die ersten Proben des aus dem Unglücksreaktor geschleuderten Materials untersucht und mit jedem Messergebnis kamen sie der für undenkbar gehaltenen Wahrheit immer näher: Nach der ersten Wasserstoffexplosion hatte wirklich eine unkontrollierte Kernreaktion innerhalb des Uranbrennstoffs (107 Tonnen) eingesetzt, die vom tagelangen Brand des Moderatorgraphits (1.700 Tonnen) gefolgt wurde. 

 

Im stockdunklen Keller des Hospitals lagern noch heute die extrem hoch verstrahlten Jacken, Stiefel und Schutzhelme der an der akuten Strahlenkrankheit verstorbenen Feuerwehrleute. Der Geigerzähler schnellt auf maximal 3.731 Mikrosievert pro Stunde empor und zeigt damit die mehr als 31.000-fache Strahlung (im Vergleich zu Lüchow-Dannenberg) an. 

In nur 16 Minuten erhält hier ein Mensch die maximal zulässige Jahresdosis, die in der deutschen Strahlenschutz-Verordnung für zusätzliche, künstliche Strahlenbelastungen festgelegt ist.

 

Einen Schrecken anderer Art erfahre ich, als ich auf der verwaisten Kinderstation die erste zurückgelassene Puppe vorfinde, die seit einem Vierteljahrhundert vergeblich auf ihre Puppenmutter wartet ...

Der Freizeitpark

Am 1. Mai 1986 - dem Mai-Feiertag - sollten das gelbe Riesenrad und die Autoscooter als neue Attraktion feierlich eröffnet werden. Doch daraus wurde nichts, denn vier Tage vorher explodierte der Reaktor Nr. 4 und 36 Stunden nach dem Unfall wurden alle Einwohner evakuiert. Das Riesenrad hat sich nie gedreht und niemand ist jemals in den bunten Autoscootern herumgekurvt. 

 

Noch heute zählt der asphaltierte Volksfestplatz zu den am höchsten belasteten Gebieten in der Stadt, weil die nördliche Fall-Out-Fahne tagelang über dieses Gebiet zog und die strahlenden Partikel nicht im Erdreich versickern konnten, also heute immer noch auf dem versiegelten Platz zu finden sind. 

 

In einigen Rissen im Asphalt haben sich die Radionuklide zu sogenannten Hot Spots angereichert und treiben das Messgerät mühelos auf über 14 Mikrosievert pro Stunde hoch (das 120-fache der in Lüchow-Dannenberg normalen Hintergrundstrahlung). 

Der Supermarkt

Genau wie im noblen Restaurant der Stadt war das Warenangebot auch im Supermarkt am Lenin-Platz außergewöhnlich: Die gut ausgebildeten und wohlverdienenden Ingenieure und Kernkraftwerker konnten hier viele westliche Luxusgüter kaufen, die ansonsten nicht in der Sowjetunion erhältlich waren. Ein Favorit soll das französische Parfüm Chanel No. 5 gewesen sein. 

Das Hallenbad "Lazurnij" (Azur)

Die Mittelschule Nr. 1

Die Grundschule Nr. 3

Der Kindergarten "Zolotoj Kluchik" (Goldenes Schlüsselchen)

Besonders die nachfolgenden Bilder sagen mehr als tausend Worte und bedürfen keinerlei Erläuterung.

Die blätternden Farben

"Les Fleurs du Mal - die Blumen des Bösen" schießt es mir spontan durch den Kopf, als ich zum ersten Mal die langsam abblätternde Wandfarbe in den langen Korridoren und halbdunklen Fluren sehe. 

Die schuppig abstehenden Farbplacken strahlen eine unerwartete Schönheit aus und erinnern mich mit ihren ästhetischen Mustern mehr an exotische Blütenblätter als an die bislang größte Atomkatastrophe der Menschheit.

Der Fahrzeugfriedhof hinter der Polizeistation

Im Hinterhof der Polizeiwache in der Straße der Bauarbeiter bedeckt bunt schillerndes Altöl großflächig den Boden. Durch die Bäume sind die ersten rostigen Autowracks zu erahnen. Auf vielen Türen steht in kyrillischer Schrift "3OHA" (Zone), damit diese kontaminierten Fahrzeuge die Sperrzone nicht mehr verlassen konnten.

 

Doch selbst vor der Strahlung macht die Profitgier nicht halt: Gut organisierte Schrottdiebe plündern seit Jahren ohne Skrupel diese kaum gesicherten Grüfte voller Lastwagen und Hubschrauber, transportieren in großem Umfang das radioaktiv verseuchte Metall ab und verkaufen den strahlenden Schrott zum Einschmelzen vor allem nach China. 

 

Durchaus möglich, dass daraus niedrigstrahlende Kuchengabeln, Stahlträger und Autos gefertigt werden, die wir anschließend kaufen. Das "Freimessen" von niedrigstrahlenden Konsumgütern bereitet den Strahlenschützern seit langem viel Kopfzerbrechen. 

Die Bahnstation "Yaniv"

Die inzwischen stillgelegte Bahnstation liegt einen guten Kilometer nordwestlich vom Unglücksreaktor und wurde tagelang vom Fall-Out verseucht. 

 

Nicht einmal die robusten Kiefern konnten der extremen Strahlung standhalten: Sie färbten sich innerhalb weniger Tage rostrot und starben dann auf mehreren Quadratkilometern ab. 

 

Auch wenn dieser sogenannte "Rote Wald" vor mehr als 20 Jahren von Bulldozern eingeebnet und mit einer Erdschicht überdeckt wurde, treiben die Radionuklide im Boden den Geigerzähler schnell auf über 22 Mikrosievert pro Stunde empor (das 180-fache der normalen Hintergrundstrahlung).

Die Flusshäfen von Tschernobyl und Pripyat

An den Ufern des Pripyat-Flusses, der in den mächtigen Dnjepr mündet, liegen die kleinen Flusshäfen von Tschernobyl und Pripyat. Lastkähne haben hierher zigtausend Tonnen Sand, Zement und Kies geliefert, um den Sarkophag bauen zu können und extrem kontaminierte Gebiete im Nordosten von Pripyat großflächig zuzubetonieren. 

 

Heute rosten diese strahlenden Zeitzeugen an den Ufern jeden Tag etwas mehr ihrem eigenen Untergang entgegen. 

Nachklang

Was als eine eher nüchterne, technische Fotoreportage begann, entwickelte sich letztendlich zu einer mächtigen Welle der Emotionen. Denn wer kann sich den einsamen Puppen und staubbedeckten Kindersandalen entziehen, ohne zu fragen: "Wer mag mit dieser Puppe gespielt haben? Welche Geheimnisse und Träume haben die Kinder mit ihr geteilt? Und was ist aus den stolzen Puppeneltern geworden? Haben Krebs und Tumoren sie inzwischen dahingerafft?" 

 

Wie viele der über 600.000 eingesetzten "Liquidatoren" inzwischen verstorben sind, ist unbekannt. Klar ist aber, dass diese Militär-Reservisten und abgezogenen Afghanistan-Kämpfer während ihrer oft nur 40 Sekunden dauernden Aufräumeinsätze auf, im und um den offenen Reaktor ungeheuren Strahlendosen ausgesetzt waren. Nach ihren kurzen Einsätzen erhielten sie von General Nikolai Tarakanov eine offizielle Urkunde, 100 Rubel und den Tschernobyl-Orden. Anschließend kehrten sie nach Hause zu ihren Familien und in ihr normales Leben zurück. 

 

Heute leiden die meisten an grauem Star, Herz-Kreislauf-Beschwerden, Gedächtnisstörungen, Tumoren der inneren Organe und zeigen das Symptom einer vorzeitigen Alterung der Zellen. Viele der ehemaligen Liquidatoren in den 40-ern sehen inzwischen wie 60-jährige Greise aus und zeigen auch entsprechend schlechte medizinische Laborwerte. Mittlerweile wurden viele dieser pathologischen Auffälligkeiten genetisch an die nächste Generation weitervererbt. Oft wissen die behandelnden Ärzte nicht einmal, dass sie es mit einem Tschernobyl-Veteran und dessen Nachfahren zu tun haben und dass die Strahlung aus Reaktor Nr. 4 die Ursache für die seltsamen Befunde und unerklärlichen Leiden ist. 

 

In Kiew berichtet mir Ewgenij Yurtschenkov vor einem schmucklosen Veteranenheim in seinem Rollstuhl von einem tiefen Gefühl der mangelnden Anerkennung und der fehlenden finanziellen und medizinischen Unterstützung. "Nachdem wir Liquidatoren wieder vom Dach heruntergestiegen waren, haben wir uns als namenlose Helden wie der strahlende Fall-Out in alle Winde verstreut und diskret und unsichtbar in Luft aufgelöst. Und mittlerweile sind fast alle von uns verschwunden", sagt er mit einer Mischung von Stolz und tiefer Verbitterung.

 

Dann zeigt er mir mit zittrigen Händen ein abgegriffenes Schwarzweiß-Foto und seinen Tschernobyl-Orden und schweigt. 

Weiterführende Informationen

Greenpeace hat seit dem Unfall im Jahre 1986 die Sperrzone um Tschernobyl ständig besucht und die Entwicklungen sehr genau beobachtet.

Die lesenswerte, leicht verständliche Studie "26 Jahre nach Tschernobyl" (50 Seiten) vom April 2012 gibt genaue Einblicke in den Status der Aufräumarbeiten und die weiteren Pläne, die immer noch von den Reaktoren ausgehende Gefahr zu vermindern. 

Download
"26 Jahre nach Tschernobyl"
Die Lage am Standort - keine Lösung in Sicht. Eine Studie von Greenpeace Deutschland.
Greenpeace 26 Jahre nach Tschenobyl.pdf
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