Wenn die Katastrophe offiziell beendet ist

When nuclear disaster officially is declared finished

September 2015 – der Atomunfall von Tschernobyl liegt inzwischen fast Jahre zurück. Auch um diese Atomkatastrophe ist es still geworden. 

 

Fast 70 Prozent des radioaktiven Fallouts wurden von Wind und Wetter aus Tschernobyl (Ukraine) in das benachbarte Weißrussland getragen. Mehr als ein Viertel des Landes wurde kontaminiert. 

 

Wie lebt heute die erste Generation nach der Atomkatastrophe  in den immer noch vom Fallout verseuchten Regionen? Begleiten Sie mich auf meiner Suche nach Antworten in die immer noch verstrahlte Sperrzone im Süden von Weißrussland.  

 

5eptember 2015 – the Chernobyl nuclear accident happened almost 30 years ago and worldwide media hardly spends any coverage on the disaster anymore.

 

Almost 70 percent of the radioactive fallout was carried by wind and rain from Chernobyl in Ukraine to the neighboring Belarus country. More than a quarter of the Belorussian territory was significantly contaminated.

 

How does the first post-Chernobyl generation live today? Join me on my search for answers in the still contaminated exclusion zone of Southern Belarus.


Wenn Sehnsucht und Tradition zur Lebensgefahr werden

When longing and traditions turn into life-threatening danger


Ich bin nur knapp 50 Kilometer vom Katastrophenreaktor entfernt auf der weißrussischen Seite in der am stärksten verstrahlten Sperrzone unterwegs. Die üppig grünen Birken- und Kiefernwälder lassen nichts von ihrem strahlenden Geheimnis erahnen.


Nur die unzähligen Warnschilder "Vorsicht Radioaktivität – Zugang  und Zufahrt verboten" erinnern daran, dass in diesen Wäldern immer noch etwas lauert, was wir Menschen nicht sehen, nicht riechen, nicht hören, nicht schmecken und nicht fühlen können – die radioaktive Strahlung aus Tschernobyl. 

 

Nach der bis dahin größten Atomkatastrophe der Menschheit wurden Anfang der 1990er Jahre eilig Warnschilder aus Metall aufgestellt. Diese inzwischen rostigen Schilder an den Straßenrändern wurden mittlerweile durch neue, wetterfeste Kunststoffschilder ersetzt, die für die nächsten Jahrzehnte vor der Gefahr warnen sollen. 

  

Doch menschenleer ist die verstrahlte Sperrzone trotz aller Warnungen nicht: Leichtsinnige Pilzsammler streifen mit ihren Körben voller Steinpilze durch den verseuchten Wald, skrupellose Diebesbanden stehlen immer noch die verstrahlten Baustoffe aus den Häuserruinen der evakuierten Dörfer und trotz der in den Bäumen eingebundenen Radionuklide wird Holz geschlagen, das als Bauholz oder Papier im weltweiten Wirtschaftskreislauf landet. Notfalls wird das verstrahlte Holz mit "sauberem" Holz gemischt, bis der Strahlengrenzwert unterschritten ist.  

 

Mein Geigerzähler misst hier bis zu fünf Mikrosievert pro Stunde, das ist bis zu 50-mal mehr Hintergrundstrahlung als an meinem Wohnort in der Lausitz. Die Strahlung ist also immer noch da, wobei heute die größte Gefahr von mit der Nahrung in den Körper gelangten radioaktiven Teilchen ausgeht. 

 


I am only 30 miles (50 kilometers) away from the Chernobyl reactor on the Belarusian side of the most contaminated exclusion zone. The lush and green birch and pine forest perfectly covers its radiant secret.


Only the numerous warning signs "Caution radioactivity - no access" remind me that in these pristine looking forests something is still lurking that we cannot see, cannot smell, cannot hear, cannot taste and cannot feel - the radiation form Chernobyl.

 

After the largest-ever nuclear disaster to mankind, warning signs of metal were hastily erected in the early 1990s. Those now rusty signs on the roadsides have been replaced by new, weatherproof plastic signs that are intended to warn the next few decades of the danger.

  

But despite all warnings the contaminated exclusion zone is not really deserted: Mushroom pickers strip with their baskets full of porcini mushrooms through the contaminated forest, unscrupulous gangs of thieves continue to steal contaminated building materials from the ruins of evacuated villages and – in spite of the radioactivity bound into the trees – the wood is cut as lumber or for paper mills to enter the global economy. If necessary, the contaminated trees are mixed with "clean" wood until the radiation safety limit is met.

 

My Geiger counter measures up to five microsieverts per hour, which is around 50 times more background radiation than at my home in Lusatia in Germany. The radiation definitely is still here in the environment, although nowadays radioactive particles in the food pose the highest risk when they are incorporated into the human body.

 


 

Das Dorf Bartholomäewka wurde erst vier Jahre nach dem Reaktorunfall evakuiert, als den Wissenschaftlern und der politischen Elite klar geworden war, dass sich die radioaktiven Partikel trotz aller Dekontaminierungsbemühungen nicht von den Häusern, Straßen und Bäumen abwaschen ließen. 

 

Seitdem holt sich die Natur langsam den ehemals vom Menschen besiedelten Raum zurück. 

 

Doch auch in diesem verlassenen Dorf bin ich nicht wirklich alleine: Inmitten der verfallenen Häuser überrasche ich zwei Männer, die verstrahlte Backsteine auf einen alten Militär-Lastwagen laden, um sie später an ahnungslose Käufer zu verhökern. Als sie meine Kamera klicken hören, lassen sie schnell ab von ihrem illegalen Tun und verstecken sich eilig im Wald.

 



The village of Bartholomaewka was evacuated four years (!) after the accident when scientists and the political elite finally recognized that the radioactive particles – despite all decontamination attempts – could not be washed off the houses, streets and trees.

 

Since then, nature slowly wins back the formerly populated area.

 

But even in this remote village, I'm not completely alone: In the ruins of a house, I surprise two men loading contaminated bricks on an old military truck in order to sell them later to unsuspecting buyers. When they hear my camera shutter clicking, they quickly stop their illegal actions and hide in a hurry in the forest.

 


 

Die ehemalige Straße ist vor lauter Bäumen und Sträuchern kaum noch zu erkennen. Geradezu feindselig kratzen die Äste am Autolack, als wollten mich die Sträucher mit ihren knorrigen Fingern am Befahren der Sperrzone hindern. 

 

Vom nächsten Dorf sind nur noch etwa zehn Häuser erhalten. Ihre bunten Bemalungen sind inzwischen verblasst, stemmen sich aber trotzig gegen Wind und Wetter. 



The rampant trees and shrubs make the former street almost invisible. The bush branches are scraping on the car paint in an almost hostile way, as if they want to prevent me – the intruder – with their gnarled fingers from entering the exclusion zone.

 

Today only ten houses of the village are still standing. Their colors have almost faded, but defiant and skewed they brace themselves against wind and weather.

 


 

Vor fast dreißig Jahren wurden alle Dorfbewohner in die nächste Stadt – Vetka – zwangsumgesiedelt und mussten nun in Plattenbauten leben. Doch schnell war das Heimweh nach dem alten Leben stärker als die Angst vor der Strahlung. 

 

Zwölf alte Babuschkas und drei Männer entschlossen sich schließlich, mit ihren Katzen und Hunden heimlich in ihr verstrahltes Dorf zurückzukehren. Sechs von ihnen sind heute noch am Leben. Doch der Preis für das gewohnte Leben ist hoch: weder Strom noch fließend Wasser, weder Telefon noch Post, weder Arztbesuche noch sonstige Kontakte zur Welt außerhalb der Sperrzone.

 


Almost thirty years ago, all the villagers were forcibly relocated to the next town – Vetka – and then had to live in prefabricated buildings. But quickly the longing for their old life was stronger than their fear of radiation.

 

Twelve old babushkas and three men finally decided to secretly return to their contaminated village together with their cats and dogs. Six of them are still alive. But the price for living here is high: no electricity, no running water from the tap, no telephone, no mail, neither doctor visits nor any other contact with the world outside the exclusion zone.

 


 

Sie versorgen sich mit Kartoffeln, Kohl, Zwiebeln, rote Beete, Äpfeln und Pilzen, die der verseuchte Boden hergibt. Außerdem laufen noch ein paar Hühner und ein Schwein durch das Dorf. Einmal im Monat schaut eines ihrer Kinder kurz vorbei und bringt Salz, Zucker und Petroleum für die Lampen vorbei.  

 

Ihre Rückkehr in das eigentlich wegen der Strahlung unbewohnbare Dorf bereuen die Alten nicht: "Auch wenn wir wegen der Strahlung, die wir in unserem Alltag nicht wahrnehmen, vielleicht ein paar Jahre früher sterben sollten, so haben wir doch wenigstens unser Leben nach unseren alten Traditionen und auf unserem eigenen Land gelebt. Das ist für uns wichtiger als ein vielleicht längeres Leben in der Stadt."

 


They supply themselves with home-grown potatoes, cabbage, onions, beets, apples and mushrooms, which come from the contaminated soil. In addition, a few chickens and a pig run through the village. Once a month, one of their children is coming over for a short visit and will bring salt, sugar and kerosene for the lamps.

 

There are no regret that they returned home to their evacuated and irradiated houses: "Even if we should die a few years earlier because of the radiation that we do not perceive in our daily lives, yet we have at least our lives according to our ancient traditions and lived on our own land. This is much more important for us than a perhaps longer life in the city."

 



Das Wasser schöpfen die Dorfbewohner wie seit Generationen aus dem dorfeigenen Ziehbrunnen. Dass radioaktive Stoffe unaufhörlich aus dem kontaminierten Erdboden in das Brunnenwasser sickern, verdrängen die Alten. Schließlich ist der Brunnen die einzige Wasserquelle für sie. 



The old villagers draw their water as all prior generations from the village's own well. The re-settlers suppress any thoughts that radioactive substances incessantly seep from the contaminated soil into the well water, as the well is their only source of drinking water.

 


Wenn nicht nur das Lächeln der Kinder strahlt

When food becomes a radioactive burden

 

In der kleinen Dorfschule von Liski herrscht heute aufgeregte Betriebsamkeit: Die Dosimetristen vom BELRAD-Institut aus Minsk kommen heute, um die radioaktive Belastung der Kinder zu messen. Soweit es die finanziellen Mittel des privaten Strahlenschutzinstituts BELRAD zulassen, kommen die Wissenschaftler zweimal im Jahr in die Schule und dokumentieren die Gefährdung durch die Strahlung – fast 30 Jahre (also eine Generation) nach der Atomkatastrophe. 

 


There is an excited bustle in the small village school of Liski: The radiation specialists from BELRAD Institute in Minsk will arrive today to measure the radioactivity in the children. As much as the financial resources of the privately funded Radiation Protection Institute BELRAD allow, the scientists come over to the school twice a year to measure and document the exposure to the radiation – almost one generation after the nuclear disaster of Chernobyl.

 


 

Die elfjährige Nika hat schon oft in dem braunen Polstersessel gesessen. Doch der so bequem wirkende Sessel ist in Wirklichkeit ein sogenannter Whole-Body-Counter, der Beta- und Gammastrahlen erfasst, die von radioaktiven Partikeln im Körper ausgehen, die durch den Verzehr verstrahlter Nahrungsmittel in Nikas Organe gelangt sind. 

 

Das Hauptaugenmerk gilt dem radioaktiven Stoff Cäsium-137, der sich ähnlich dem lebenswichtigen Kalium in Muskeln und den inneren Organen anreichert. Besonders im Gewebe des Herzmuskels lagert sich das radioaktive Cäsium-137 an, bestrahlt die Zellen direkt im Körperinneren und bringt sie dadurch zum Absterben. So vermindert sich dauerhaft die Leistungsfähigkeit des kindlichen Herzens. Im Jahr 2001 konnte der weißrussische Herzspezialist Prof. Dr. Yuri Bandazhevsky diese bis dahin unbekannte, strahlenbedingte Herzinsuffizienz als unmittelbare Folge der aufgenommenen radioaktiven Niedrigstrahlung entlarven ("Radioactive Cesium and the Heart"). 

 


Eleven year-old Nika has often been in the brown upholstered chair. But the comfortable-looking chair is actually a so-called Whole Body Counter: it detects beta and gamma rays emitted by radioactive particles that were incorporate into the children after the consumption of contaminated foods.

 

The main concern is the radioactive substance cesium-137, which similar to potassium accumulates in muscles and internal organs. Cesium-137 especially enriches in the heart muscle tissue, so the cells are irradiated directly from inside the body, thereby making cells die and reducing the performance of the heart. In 2001 the Belarusian heart specialist Prof. Dr. Yury Bandazhevsky could proof that this previously unknown radiation-induced heart failure is a direct consequence of continuous internal low-level radiation ("Radioactive Cesium and the Heart").

 


 

In der Rückenlehne des Whole-Body-Counter-Sessels sind die Messinstrumente angebracht, die jedes Strahlenquant aus dem Körper des zu messenden Kindes an einen angeschlossenen PC weiterleiten, der die Strahlenimpulse aufzeichnet und auswertet. Die Kontamination jedes einzelnen Kindes und die gefundenen Radionuklide werden dann in einer Datenbank abgespeichert, die Auskunft über den zeitlichen Verlauf der Strahlenbelastung der Kinder gibt. 

 


The back rest of the Whole Body Counter Chair holds the sensitive measuring instruments. They transmit an electronic impulse for each radiation quantum detected from the body of the child to the connected PC that records the radiation pulses and evaluates them. The contamination level and the detected radionuclides then are stored in a database that provides information about the exposure history of each single child.

 


 

Nach zwei Stunden sind alle Schüler gemessen und das erschütternde Ergebnis steht fest: Alle Kinder tragen auch 30 Jahre nach dem Tschernobyl-Unfall in sich erhebliche Konzentrationen strahlender Stoffe aus dem Unglücksreaktor – teilweise in gesundheitsgefährdender Höhe. Obwohl das ausschließlich vom Menschen in die Umwelt eingebrachte radioaktive Cäsium-137 eigentlich gar nicht in den Körpern der Kinder vorkommen sollte, wurden 10 Becquerel pro Kilogramm Körpergewicht als gerade noch vertretbare Obergrenze festgelegt – doch fast alle gemessenen Kinder weisen deutlich höhere Strahlenwerte auf. 

 

Auf der Grundlage seiner mehr als 100.000 Messungen in den letzten 25 Jahren vermutet das BELRAD-Institut, dass 80 Prozent aller weißrussischen Kinder an mindestens einer chronischen Krankheit wie Herz-Kreislauf-Problemen, Bluthochdruck, Diabetes oder Immunproblemen leiden und als krank bezeichnet werden müssen. 

 

Ich frage die Schuldirektorin – eine resolute und zugleich warmherzige Mittfünfzigerin – ob sie an ihren Schülern irgendwelche ungewöhnlichen Erkrankungen beobachten konnte. Sie berichtet etwas nervös, dass nur zwei Schüler an Bluthochdruck leiden, aber sonst alle angeblich gesund und munter sind. Der Augenkontakt fällt ihr während unseres Gesprächs schwer. Ich bin irritiert, weil diese Aussage nicht so recht zu den Messwerten der Kinder passt. 

 

Wenig später löst sich das Rätsel auf und ich verstehe, warum mir die Schuldirektorin nicht die Wahrheit über die gesundheitlichen Probleme ihrer Schüler erzählen konnte: Auf dem Weg aus der Schule bemerke ich einen jungen, drahtigen Mann in Lederjacke und mit Sonnenbrille, der nicht so recht in die Schule passt, gestikulierend mit der Direktorin spricht und anschließend unsere Abfahrt genau beobachtet. Aus dem Autofester gelingt mir ein Foto des merkwürdigen Mannes (es folgt ein vergrößerter Bildausschnitt). 

 


After two hours, all students are measured and the shocking result is evident: Even 30 years after the Chernobyl accident, all children carry in their bodies significant amounts of radioactive substances from the reactor accident - in many cases the doses are hazardous to health. In a perfect world there should not be any of the man-made isotope Cesium-137 in the children, up to 10 Becquerel per kilogram of body mass was accepted as the tolerable upper limit – but almost every child suffers higher radiation values. 

 

Based on its extensive research with more than 100,000 measurements in the last 25 years, the BELRAD Institute estimates, that 80 percent of the Belarusian children have at least one chronic disease like cardio-vescular problems, hypertonia, diabetes or issues with their immune system and have to be considered ill.

 

I ask the headmaster - a resolute but warm-hearted lady in her fifties - whether she observed any unusual diseases among her students. She states a bit nervous that only two students suffer from high blood pressure, but otherwise everybody is supposed to be fine. Eye contact is hard for her during our conversation. I am rather confused because her statement does not fit the radiation measuring results ​​that just came in.

 

A little later, the mystery resolves and I understand why the headmistress was not able to tell the truth about the health problems of her students: On the way out of the school building, I notice a young, wiry man in leather jacket and with sunglasses, which does not seem to fit to the school, wildly gesticulating while speaking with the school director and then closely watching our departure. Out of the car window I succeed to shoot a photo of the strange guy (follows as an enlarged detail photo).

 



Mein Übersetzer nickt nur und bestätigt wenig später, dass der Inlandsgeheimdienst natürlich an meinen Recherchen und meinen Gesprächen sehr interessiert ist. Mein Reiseplan und auch meine Gesprächstermine sind den offiziellen Stellen bekannt. Daher ist es sehr wahrscheinlich, dass Vertreter des Innenministeriums vor meinen Interviews allen Gesprächspartnern in den Mund legen, dass die Strahlenkatastrophe ohne große Folgen und ohne anhaltende Spuren vorbei sei. 

 

Doch warum leugnet die weißrussische Regierung die anhaltenden Folgen des Reaktorunfalls von Tschernobyl, die mit jedem Geigerzähler nachweisbar sind? Mir fällt ein, dass Belarus gerade mit russischer Hilfe seine ersten beiden Atomkraftwerke im Norden des Landes baut und alles tut, um die Bevölkerung bezüglich des künftigen Atomstroms in Sicherheit wiegen will ... 

 


My translator only starts nodding his head and then confirms that the domestic intelligence service is very interested in my research and my interviews. My itinerary and my appointments had to be reported to the officials in advance. Therefore, it is very likely that representatives of the Ministry of Interior are contacting all my interview partners before I meet them and instruct them to deny any health effects and other consequences from radiation.

 

But why does the Belarusian government deny the lingering consequences of the Chernobyl accident that every Geiger counter will proof? Then I remember that Belarus is just building – with Russian financial and technical support – its first two nuclear power plants in the north of the country and therefore the Belarus public shall be reassured about the safety of nuclear power plants ...

 


Wenn der geliebte Wald zum Feind wird

When the beloved forest turns into a hostile enemy

 

Zurück in der Hauptstadt Minsk: Eine Radiometristin hat in einem Wald nahe Gommel einen Eimer voller Preiselbeeren gesammelt und zur Messung mitgebracht. Schnell zeigt das Messgerät 870 Becquerel pro Kilogramm an (das sind 870 radioaktive Atomzerfälle pro Sekunde in jedem Kilogramm), immer noch eine deutliche Überschreitung des erlaubten Grenzwertes. 

 

Mir fallen spontan die vielen unbelehrbaren oder gutgläubigen Menschen ein, die ich im Wald des Sperrgebietes beim Pilze- und Beerensammeln gesehen habe. Diese bis zum heutigen Tag gelebte Tradition des Sammelns und Einmachens von – heute immer noch verstrahlten – Früchten des Waldes erklärt unter anderem die besorgniserregend hohen Konzentrationen  radioaktiver Stoffen in den Körpern der Schulkinder von Liski. 

 


Back in the capital Minsk: A radiation expert has collected a bucket full of cranberries in a forest near Gommel and brought it here to be measured. The meter quickly displays 870 becquerels per kilogram (which is 870 radioactive disintegrations per second in a kilogram), still a value significantly exceeding the permitted upper safety limit.

 

I spontaneously remember all the incorrigible or gullible people I've seen in the forest of the restricted area, picking berries and mushroom. This old tradition of gathering and canning - today still contaminated - fruits of the forest is one of the root causes of the alarmingly high concentrations of radioactive substances in the bodies of the school children of Liski.

 


 

Aleksander ist Leiter des Strahlenlabors von BELRAD in Minsk. Er berichtet von seinen Versuchen, die häufig unbelehrbare und sture Dorfbevölkerung über die gefährliche Strahlung in den Lebensmitteln aufzuklären. Viele ärmere Familien können es sich aber einfach nicht leisten, "saubere" Lebensmittel in der Stadt zu kaufen, oder wollen nicht von ihren Traditionen der Jäger und Sammler ablassen. 

 

Doch nach den Erkenntnissen des BELRAD-Institutes gibt es Wege, wie die Aufnahme radioaktiver Stoffe aus strahlenbelasteter Nahrung verringert werden kann: Wildfleisch soll z. B. 24 Stunden lang in Essigwasser eingeweicht werden, das alle zwei Stunden erneuert werden muss. Durch diese Behandlung verliert das Fleisch bis zu 60 Prozent seines Radio-Cäsiumgehaltes – aber natürlich ist saures Wildfleisch, dass nicht mehr knusprig werden kann, nicht jedermanns Sache ...

 


Aleksander is director of the radiation laboratory at the BELRAD Institute in Minsk. He tells me about his attempts to sensitize the often incorrigible and stubborn villagers about the dangerous radiation in their food. But many poor families simply cannot afford to buy "clean" food in the city supermarket or do not want to give up their traditions of hunting and gathering.

 

However, according to the findings of the BELRAD Institute, there are ways in which the intake of radioactive substances from contaminated food can be reduced: venison for instance should be soaked for 24 hours in water and vinegar, which must be renewed every two hours. By this treatment the meat will lose up to 60 percent of its radio-cesium content - but of course is acidic game meat that never will be crunchy not a very yummy meal ...

 


 

Auch Prof. Dr. Georgij Lepin sieht die Belastung der Lebensmittel mit radioaktiven Stoffen als das heutige Hauptproblem an. Er war als Liquidator jahrelang an den Aufräumarbeiten in Tschernobyl beteiligt und hat zahlreiche Bücher über die Folgen des Reaktorunfalls geschrieben.

 

Die Botschaft von Prof. Lepin ist genau so einfach wie aktuell: Niemand sollte die Reaktorkatastrophe als erledigt ansehen und mit der Atomkraft fortzufahren, als sei nichts gewesen, denn die Opfer von Tschernobyl sind noch nicht einmal alle geboren. Damit spielt er auf die Erbgut verändernde Wirkung der radioaktiven Strahlung an, die alle künftigen Generationen betreffen wird. 

 


Prof. Dr. Georgy Lepin sees the food contamination with radioactive materials as today's main problem. He was involved as liquidator for many years to clean up the Chernobyl legacy and has written numerous books on the consequences of the accident.

 

Prof. Lepin's message is as simple as up to date: No one should consider the nuclear disaster as completed and just continue with nuclear power as if nothing had happened: The victims of Chernobyl are not even all born. He alludes to the mutagenic effects of radiation, which will affect all future generations.

 


Wenn Äpfel zum Politikum werden

When apples suddenly become part of politics

 

Ein Verdienst des BELRAD-Instituts ist die Erkenntnis, dass Apfelpektin – eine Substanz aus normalen Äpfeln – Radio-Cäsium im Körper binden und dafür sorgen kann, dass der Körper bis zu 60 Prozent mehr Cäsium-137 ausscheidet. Diese erstaunliche Wirkung wurde u.a. vom radiochemischen Labor des deutschen Forschungszentrums Jülich bestätigt. 

 

"Vitapect-3" – das wirkungsvolle und kostengünstige Nahrungs-ergänzungsmittel ohne Nebenwirkungen – könnte also  insbesondere den weißrussischen Kindern helfen, das strahlende Cäsium schneller aus ihren Körpern auszuscheiden. Und auch für die Kinder von Fukushima wäre dieses Präparat interessant. 

 

Weil aber nach Weisung der weißrussischen Regierung die Atomkatastrophe von Tschernobyl offiziell vorüber ist, werden BELRAD als dem Hersteller  von "Vitapect" überall bürokratische Steine in den Weg gelegt. Neuester Coup: Auch wenn die Produktion von "Vitapect" fast geräuschlos verläuft, darf das Apfelpräparat nicht mehr in den Räumen des Minsker Instituts hergestellt werden, weil das BELRAD-Gebäude in einem Wohngebiet und nicht in einem Industriegebiet liegt. Daher hat BELRAD die Produktion nach Tschechien ausgelagert, was natürlich zu erhöhten Kosten und damit zu einer unnötigen Verteuerung des Präparats führt ...

 


A merit of the BELRAD Institute is the proof that apple pectin – a substance from normal apples – can bind radio-cesium in human bodies and ensure that the body will excrete up to 60 percent more cesium-137. This amazing effect was, inter alia, confirmed by the radiochemical laboratory of the German Nuclear Research Centre in Jülich.

 

"Vitapect-3" - the efficient and cost-effective food supplement with no side effects - could thus in particular support Belarusian children to get rid off the radiant cesium faster from their bodies. Furthermore, this medication may help the children of Fukushima.

 

But because the Belarusian government has declared the nuclear disaster of Chernobyl officially closed, bureaucratic obstacles suddenly are placed in BELRAD's way as the manufacturer of "Vitapect". The latest coup: Though the production of "Vitapect" runs almost without any noise emission, the apple product may no longer be manufactured on the premises of the Minsk Institute because the BELRAD building is located in a residential and not in an industrial area. Therefore BELRAD had to outsource the production to the Czech Republic, which of course increased costs and made "Vitapect" less affordable for the population in need ...

 


 

Dr. Alexej Nesterenko ist der Geschäftsführer des privaten und unabhängigen Strahlenforschungsinstituts BELRAD. Die Verdienste des Instituts bei der Erfassung der Strahlenbelastung in menschlichen Körpern  und bei der Aufklärung der Landbevölkerung, wie die Aufnahme radioaktiver Partikel über die Nahrung vermindert werden kann, sind weltweit unbestritten. 

 

"Die gesundheitliche Wirkung der radioaktiven Substanzen Cäsium-137 und Strontium-90 sind der Wissenschaft dank unserer Forschungen recht gut bekannt. Aber andere, langlebige Radionuklide wie z.B. Americium-241 müssen nun auf ihr Gefährdungspotential untersucht werden. Es gibt also unverändert viel zu tun für uns, aber die Spendengelder aus dem Ausland werden weniger, weil Tschernobyl in Vergessenheit gerät und die Spenden teilweise auch nach Fukushima gehen."

 

Dr. Nesterenko befürchtet außerdem, dass auch seinem Institut von offizieller Seite bald erklärt werden könnte, dass die Katastrophe vorbei sei, kein Bedarf mehr für das BELRAD-Strahlenschutzinstitut bestehe und daher auch die Betriebserlaubnis für das Institut erlöschen könnte. Offenbar sehen BELRAD und die weißrussischen Atomgegner unruhigen Zeiten entgegen ... 

 

 

Dr. Alexey Nesterenko is the managing director of the independently run and privately funded Radiation Research Institute BELRAD. The merits of the Institute in the detection of radiation exposure in human bodies and in educating the rural population, how the ingestion of radioactive particles can be reduced through diet, are recognized around the world.

 

"The health effects of the two radioactive substances cesium-137 and strontium-90 are now better understood based on our research. But other, long-lived radionuclides such as Americium-241 must now be examined for their potential danger. So there is still much to be done for us, but the donations from abroad become less because Chernobyl is almost forgotten and the donations partly go to Fukushima. "

 

Dr. Nesterenko is also concerned that the Belarus government could declare – as the disaster now is officially closed –  that there is no need for the BELRAD Radiation Protection Institute anymore, and therefore could revoke the operation license of the Institute.

 

It seems that BELRAD and the Belarusian nuclear opponents are facing hard  times ...

 


Wenn der Platz an den Wänden nicht mehr ausreicht

When the space on the walls is not sufficient anymore

 

Die Bilder von durch Strahlung körperlich und geistig behinderten Kindern wurden in den 1990er und 2000er Jahren von verschiedenen westlichen Fotografen dokumentiert. Unvergessen sind z.B. die Fotos von Paul Fusco, die belegen, dass die jüngsten der Strahlenopfer von Tschernobyl teilweise unter menschenunwürdigen Bedingungen in abbruchreifen Spezialkliniken vor sich hin vegetieren mussten. 

 

Heute scheint sich dank zahlreicher Spenden aus Westeuropa die Situation gebessert zu haben. Andererseits ist die Zahl der an Leukämie oder angeborenen Behinderungen leidenden Kinder seit der Reaktorkatastrophe auf einem unverändert höheren Niveau. 

 

Ich besuche das "Belarussian Children Hospice" in Minsk, in dem todkranke Kinder ihre letzten Wochen und Tage verbringen können. Das Krankenbett, vor dem ich stehe, ist gestern frei geworden, nachdem der kleine Patient an Leukämie gestorben ist. Die Bettwäsche ist bereits abgezogen worden und nur noch die beiden Stofftiere erinnern daran, dass hier ein weiteres Opfer von Tschernobyl einen sinnlosen Tod gestorben ist. 

 

 

The images of physically and mentally disabled children were well documented in the 1990s and 2000s by various Western photographers. Unforgettable are e.g. the photos by Paul Fusco, demonstrating that the youngest radiation victims of Chernobyl had to vegetate partly under inhumane conditions in dilapidated special clinics.

 

Today the situation seems to have improved thanks to financial donations from Western Europe. On the other hand, the number of children with leukemia and birth defects still is significantly higher than before the Chernobyl accident. 

 

I visit the "Belarussian Children Hospice" in Minsk, where terminally ill children can spend their last weeks and days. The bed in front of me has become vacant yesterday after the little patient died of leukemia. The linen has already been removed and only the two stuffed animals remind me that here another Chernobyl victims died a senseless death.

 


 

Auf dem Fensterbrett steht neben einer russischen Ikone und einem Heiligenbild ein "Pain Tracer", mit dessen blauem Schieberegler die todkranken Patienten ohne Worte dem Arzt und den Seelsorgern anzeigen, wie stark ihre Schmerzen – körperlich und seelisch – momentan sind. 

 


On the window sill stands a plastic "pain tracer" next to a Russian icon and a holy picture: With its blue slider a patient can tell the doctors and pastors without words about the level of the perceived physical and mental pain.

 


 

Im zweiten Stockwerk wurde ein kleiner Andachtsraum für die Eltern und Verwandten der sterbenden Kinder eingerichtet. Die Wände sind übersät mit Fotos von Kindern, die hier in den letzten Jahren gestorben sind. 

 


On the second floor a small prayer room for the parents and relatives of the dying children has been established. The walls are covered with photos of children who died here in the last few years – most of them due to different types of cancer.

 


 

Sogar an den Wänden der Flure reihen sich die vergilbenden Fotos von Hunderten verstorbener Kinder, deren Körper schließlich vor den strahlenbedingten Krankheiten kapituliert haben. 

 


Even the walls of the corridors are lined with yellowing photos of hundreds of dead children whose bodies have finally capitulated to the radiation-related diseases.

 


 

Allmählich wird der Platz an den Wänden für die Fotos der gestorbenen Kinder knapp. Daher ist das Hospiz zu einer platzsparenden Lösung übergegangen, und heftet nur noch kleine, bunte Papiersterne mit den Vornamen der verstorbenen Kinder an die Wand.

 

 

Gradually the space on the walls for the photos of dead children is scarce. Therefore, the hospice has moved to a space-saving solution, and now only attaches small, colorful paper stars with the name of the deceased children to the wall.

 


Nachwort

Epilogue

 

Fast 30 Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl sind das radioaktive Cäsium-137 (Halbwertszeit: 30,17 Jahre) und das strahlende Strontium-90 (Halbwertszeit: 28,78 Jahrezur Hälfte zerfallen. Trotzdem gibt es keine Entwarnung. 

 

Weite Landstriche in Belarus und der Ukraine sind weiterhin unbewohnbar. 

 

Besorgniserregend sind vor allem die radioaktiv belasteten Lebensmittel, die noch für die nächsten Hunderte von Jahren weiterhin radioaktive Partikel in die menschlichen  Körper bringen werden. 

 

Die weißrussische Regierung erklärt die Atomkatastrophe offiziell für beendet und die meisten arglosen oder gutgläubigen Betroffenen versuchen, sich so gut es geht mit der Strahlung und den dadurch verursachten Einschränkungen des täglichen Lebens zu arrangieren. Doch das erfordert Disziplin und Kraft und nimmt dem Alltag seine Unbeschwertheit. 

 

In Belarus können wir schon heute erahnen, was in den nächsten Jahrzehnten auch auf die Menschen von Fukushima zukommen wird...

 

Weitere Information zur aktuellen Situation in Belarus gibt aus erster Hand auch das private und unabhängige BELRAD-Strahlenschutzinstitut.

 


Almost 30 years after the nuclear disaster of Chernobyl, half of the radioactive cesium-137 (half life time: 30.17 years) and strontium-90 (half life time: 28.78 years) has decayed. However, there is no all-clear.

 

Vast areas of Belarus and Ukraine are still uninhabitable.

 

A special concern is the contaminated food that will continue for the next hundreds of years to bring radioactive particles into the human body.

 

The Belarusian government declared the nuclear disaster officially closed and most of the unsuspecting or gullible radiation-victims try – as good as they can – to arrange with the ubiquitous radiation-related restrictions in their everyday life. But that requires a lot of thoughtfulness, discipline and strength in daily life.

 

In Belarus, already today you can see the long-lasting challenges that the people of Fukushima will face in the next few decades and centuries ...

 

More first-hand information on the current situation in Belarus are also available from the privately funded and independently run  BELRAD Radiation Protection Institute.

 


Foto: Sybille Tetsch
Foto: Sybille Tetsch